Ende der Legende - oder ihr Beginn? Vor 15 Jahren erschoss sich Nirvana-Frontmann Kurt Cobain im Heroinrausch mit der Schrotflinte. Viele Fans indes glauben nicht an einen Selbstmord ihres Idols, sie wittern ein perfides Mordkomplott. Und natürlich haben sie Beweise.
Ein Elektriker fand die Leiche am Morgen des 8. April 1994. Kurt Cobain, die widerwillige Stimme der Generation X: tot. Im Raum über der Garage des Anwesens bei Seattle hatte er sich den Lauf einer Schrotflinte in den Mund geschoben und abgedrückt. Zwei Tage später versammelten sich mehrere tausend Fans zu einer Trauerfeier in Seattle und hörten eine Aufnahme, auf der Cobains Witwe, Courtney Love, aus dessen Abschiedsbrief vorlas: "It's better to burn out than to fade away", zitiert er darin einen Song von Neil Young. Der Tod des Sängers von Nirvana ist eines dieser Ereignisse, bei denen man sich auch Jahre später noch an dem Moment erinnert, in dem man davon erfuhr.
Schließlich ging es hier auch nicht um irgendeinen toten Rockstar. Als Nirvanas Album "Nevermind" im Januar 1992 Michael Jacksons "Dangerous" von der Spitze der amerikanischen Charts verdrängte, symbolisierte das einen Zeitenwechsel in der Popmusikgeschichte. Die Achtziger waren vorbei, hier kam etwas Neues. Anstelle von stilisierten Pop-Produktionen kam hier raue Rockmusik, die die Werte des Punk vor sich her trug, die Schmerz ausdrückte in Schreien und lauten Gitarren - aber dabei immer melodiös blieb.
"Smells Like Teen Spirit", die erste Single von "Nevermind", war 1991 zum MTV-Hit geworden und machte aus einer Band, die in der Grunge-Szene von Seattle eigentlich als eher zweitrangig galt, schlagartig die größte Rockband ihrer Zeit. Und aus Kurt Cobain, dem Scheidungskind aus dem nordwestamerikanischen Kaff Aberdeen, ein Idol.
Heroin gegen das Magenleiden
Bald schon wurde bekannt, dass Kurt Cobain nicht nur unter seelischen Schmerzen litt. Sein chronisches Magenleiden behandelte Cobain mit Heroin. Und als er Courtney Love kennenlernte, freundeten sich die
beiden über gemeinsamen Drogengebrauch an, "so wie Evian-Wasser und Batteriesäure", wie Cobain einmal sagte. Am 24. Februar 1992 heirateten die beiden, bald darauf kam ihre gemeinsame Tochter Frances Bean zur Welt.
Doch von Familienglück konnte keine Rede sein. Cobain empfand zunehmend Überdruss über seinen Starstatus, gesundheitliche Probleme kamen hinzu: Nach einem Auftritt in München am 1. März 1994 brach er die Europatour der Band ab und reiste nach Rom, um dort Courtney Love zu treffen. In einem Hotelzimmer nahm er eine Überdosis des Beruhigungsmittels Rohypnol ein, wurde aber gerettet. Nach einer Versammlung mit Freunden, Musikern und Managern willigte er Ende März in den Drogenentzug ein. Wenige Tage später starb Kurt Cobain, als Todeszeitpunkt wird der 5. April geschätzt. Unter dem Titel "Der erste MTV-Tote" veröffentlichte das Kölner Popkultur-Magazin Spex bald darauf ein Redaktionsgespräch, in dem man zu dem Schluss kam: Cobain sei mit seinem Nihilismus so weit gegangen, dass seinem Ende eine gewisse Folgerichtigkeit zukomme - "gegen Selbstmord ist kein Einwand möglich".
Oh doch, wenden bis heute etliche Nirvana-Fans ein: nämlich, dass es gar kein Selbstmord war. Auf Websites werden Indizien präsentiert; zwei kanadische Autoren haben schon zwei Bücher darüber veröffentlicht; im offenen Kanal von Seattle lief jahrelang eine Fernsehsendung namens "Kurt Cobain Was Murdered". 2004, als sich Kurt Cobains Tod zum zehnten Mal jährte, wurde auch Katrin Bresche auf die Zweifel an der offiziellen Todesursache Selbstmord aufmerksam: "Durch die ganzen Fakten und Beweise war es für mich sehr schnell sehr eindeutig", sagt die heute 24-Jährige aus dem westfälischen Dülmen. Seit 2006 betreibt sie die Website www.gerechtigkeitfuerkurt.de, für die sie zahlreiche Dokumente ins Deutsche übersetzt hat. "Mir geht es darum, dass die, die in die Sache verwickelt sind, nicht einfach davonkommen", sagt sie. Außerdem verfälsche der Eindruck des labilen, selbstmörderischen Cobain die Erinnerung an den Sänger, "auch für seine Tochter, die bestimmt ein falsches Bild von ihrem Vater bekommen hat."
Keine verwertbaren Fingerabdrücke auf der Tatwaffe
Die Hauptquelle für Bresches Site, wie für fast alle Vertreter der Mordthese, ist ein Privatdetektiv aus Los Angeles namens Tom Grant. Courtney Love hatte ihn beauftragt, Kurt Cobain zu suchen, nachdem dieser am Abend des 1. April über die Mauer der Entzugsklinik Exodus in Los Angeles geklettert war. Sie hatte Grants Nummer in den Gelben Seiten gefunden - und sicher wird sie sich später oft gewünscht haben, eine andere Detektei kontaktiert zu haben.
Denn Tom Grant ist überzeugt, dass seine Auftraggeberin Courtney Love beteiligt war an einem Mordkomplott gegen ihren Ehemann. Cobain habe sich scheiden lassen und sein Testament ändern wollen, sie habe ihren Reichtum und Ruhm gefährdet gesehen. Im Nachhinein habe Love ihren Mann als schon länger selbstmordgefährdet dargestellt und so die Ermittlungen der Polizei in diese Richtung gelenkt. Sein Abschiedsbrief sei ein Abschied von der Karriere gewesen, nicht vom Leben, und die dramatischen letzten Worte, wonach das Leben seiner Tochter glücklicher wäre ohne ihn, seien in einer anderen Handschrift hinzugefügt worden. Auf der Waffe, die Cobain den tödlichen Schuss zufügte, seien keine verwertbaren Fingerabdrücke gefunden worden. Zudem sei in Cobains Blut so viel Heroin gewesen, dass er gar nicht fähig hätte sein können, sich selbst zu erschießen. Diese und viele andere vermeintliche Ungereimtheiten hat Grant in einem "Fallstudien-Handbuch" gesammelt, das er für 46 Dollar über seine Website www.cobaincase.com verkauft.
Was man von Grant hält, entscheidet wohl letztlich darüber, ob man die Mordthese unterstützt oder nicht. Katrin Bresche, die Websitebetreiberin, hält den Detektiv für glaubwürdig und attestiert ihm, nicht hinter dem Geld und der Aufmerksamkeit her zu sein. Der Filmemacher Nick Broomfield, dessen Dokumentarfilm "Kurt & Courtney" 1998 die Zweifel an Cobains Selbstmord einem größeren Publikum vermittelte, ist schlussendlich nicht überzeugt und verwirft den Mordverdacht. Und vor allem die Polizei von Seattle findet in den Ergebnissen von Grants Recherchen nichts, was Anlass gäbe, die Ermittlungen wieder aufzunehmen - weil sie eigene Ermittlungsfehler nicht eingestehen will, sagt Grant. Es ist ein Teufelskreis: Die Polizei fordert Beweise, um das Verfahren wiederzueröffnen. Grant behauptet, er habe diese Beweise, wolle sie aber erst im wiedereröffneten Verfahren vorlegen. Derweil arbeitet er an einem Video, "Project Unplugged", das das Thema wohl im Gespräch halten soll.
Die Witwe als Hauptverdächtige des Mordkomplotts
"In ihrer Mythologie hat die Rockmusik schon immer zu beweisen versucht, dass hinter jedem guten Mann eine böse Frau steht", schrieb die Popautorin Kerstin Grether über die öffentliche Rolle von Courtney Love - man denke nur daran, wie Yoko Ono die Beatles zerstört haben soll. Und Love soll ihrem Mann also nicht nur die Band, sondern auch gleich das Leben gekostet haben. Die Sängerin und Schauspielerin eignet sich auch deshalb so gut als potenzielle Mordverschwörerin, weil sie in ihren öffentlichen Äußerungen kämpferisch und nicht immer sehr konzise ist.
Ihr MySpace-Blog (und neuerdings ihr Twitter-Feed) besticht durch eigenwillige Grammatik und Rechtschreibung, sowie durch Beschimpfungen und Selbstbespiegelungen in einem wilden Bewusstseinsstrom. Dass der Ex-Polizist Tom Grant in seinen Gesprächen mit Love mehrfach auf unlogische Aussagen stieß - es kann einen regelmäßigen Love-Leser nicht wundern. Doch die Art und Weise, in der etwa Broomfields Dokumentarfilm Love als manipulative Schreckensperson darstellt und ihren Vater ausgiebig zu Wort kommen lässt, der überzeugt ist, dass seine Tochter eine Mörderin ist, erzeugt eher Mitleid mit der Witwe.
2006 verkaufte Courtney Love einen 25-prozentigen Anteil ihrer ererbten Rechte an den Songs von Nirvana an einen Musikverlag für geschätzte 50 Millionen Dollar. In jenem Jahr überholte Kurt Cobain sogar Elvis Presley als profitabelster toter Musiker. Love versprach den Fans der Band einen geschmackvollen Umgang mit den Liedern, der den Geist Nirvanas achte. Seither sind die Stücke zwar in Fernsehserien wie "Lost" und "Cold Case" und in Videospielen aufgetaucht, aber das amerikanische Magazin Portfolio berichtet in seiner April-Ausgabe, dass die Einnahmen deutlich niedriger seien als erhofft. Auf große Neuentdeckungen zum Todestag dürfen die Fans von Nirvana nicht hoffen. Es gebe keine unveröffentlichten Songs mehr, sagte der Bassist der Band, Krist Novoselic, kürzlich in einem Interview, allenfalls Videomaterial harre noch der Veröffentlichung. Auch der Spielfilm über Cobains Leben, für den Universal die Drehbuchrechte gekauft hat und den Courtney Love mitproduzieren soll, lässt auf sich warten - gerade dementierte James-Bond-Regisseur Marc Forster Gerüchte, dass er Regie führen solle.
Während also vorerst dem Mythos Kurt Cobain nichts Neues hinzugefügt wird, wabern die Gerüchte weiter, die zu einem toten Rockstar einfach dazugehören: Elvis lebt, die CIA wollte John Lennons Tod, Kurt Cobain wurde ermordet. Francis Bean, die Tochter von Kurt Cobain und Courtney Love, jedenfalls zeigt sich davon unbeeindruckt. Sie feierte am 2. September 2008 ihren 16. Geburtstag nach. Klatschreportern zufolge war es eine Themenparty: "Ruhe in Frieden, Kindheit". Ein Partyspiel war: Wer kann am totesten aussehen.